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März 2023
„Der leidende Gott“- Wolfgang Rihms Passions-Stücke nach Lukas
Als im Jahr 2000 der 250. Todestag von Johann Sebastian Bach begangen wurde, vergab die Internationale Bachakademie Stuttgart Kompositionsaufträge für Passions-Oratorien, die auf den Berichten von Leiden und Sterben Jesu der vier Evangelisten basieren sollten. Hieraus entstand das Projekt PASSION 2000; zwischen dem 29. Juli und dem 8. August 2000 gelangten in der Stuttgarter Liederhalle vier Passionen für Soli, Chor und Instrumente zur Aufführung. Eines dieser Werke ist DEUS PASSUS – Passions-Stücke nach Lukas von Wolfgang Rihm (*1952)

Das Werk ist für fünf Solisten, gemischten Chor und Orchester gesetzt und besteht aus 27 Sätzen. Als Texte verwendet Rihm den Passionsbericht nach Lukas (mit Auslassungen) in der Übersetzung Martin Luthers, liturgische Texte zur Karwoche aus dem Graduale Romanum, Abschnitte aus dem Stabat Mater (beides in lateinischer Sprache) sowie das Gedicht Tenebrae von Paul Celan (1920-1970).
Wolfgang Rihm, katholisch erzogen, betrachtet sich selbst als Skeptiker, der nicht als „glühender Glaubenseiferer“ auf seinen Gegenstand stieß, für ihn war das Wieder-Lesen „dieser gesättigten, kulturdurchtränkten und mit Problematik getränkten Texte“ gestaltet sich als eine zurückhaltende und vorsichtige Darstellung, die weitgehend auf vordergründige Dramatik verzichtet. Er wählte den Bericht nach Lukas für seine Vertonung wegen der geringen antijudaistischen Tendenzen; seine Passion setzt mit dem Abendmahl ein und endet mit den Frauen am leeren Grab. Für die strukturelle Konzeption werden folgende Punkte entscheidend.
Der Leidensweg Jesu wird auf einzelne Stationen reduziert (daher auch der Untertitel Passions-Stücke), es fallen fünf Episoden heraus (das Gespräch beim Abendmahl, Jesu Mahnungen an seine Jünger am Ölberg, die Malchus-Episode, Simon von Kyrene, die Schächer am Kreuz). Starke Kürzungen auch bei den vorhandenen Szenen (von der Abendmahl-Episode bleiben nur die Einsetzungsworte). Libretto als „Vor-Komposition“.
Die klassische Rollenverteilung wie in den Passionen Bachs (Jesus, Pilatus, Evangelist) wird fast vollständig aufgelöst: die Christus-Worte werden von allen fünf Solisten gesungen (Rihm: „Die Worte Christi gehören uns allen.“), der Komponist nennt dieses Verfahren „in eine Stimme“ legen. Die Evangelisten-Worte fallen überwiegend der Solo-Altistin zu, Rihm verlegt die Passionsbetrachtung in die Sicht der Mutter Jesu (wie auch die Abschnitte aus dem Stabat Mater).
Die Musik fungiert als Folie theologischer Ausdeutung. In der Verurteilungsszene vor Pilatus (14) erfolgt die Umsetzung der These Hans Blumenbergs (in dessen Buch: Matthäuspassion), wonach es den Raubmörder Barabbas nicht gibt (Verweis auf die aramäische Bedeutung: bar abbas = Sohn des Vaters, eine Selbstbezeichnung Jesu), von Rihm als Flüsterchor dargestellt, der ein „inneres Gehör“ des Pilatus verkörpert – Pilatus trage juristische Alleinschuld. Hierbei spricht der Chor den Namen nicht als „Barabbas“ sondern als „bar abbas“ aus, ein Klangteppich, in den sich, im gleichen Rhythmus das Wort „kreu-zige“ von einer zweiten Chorgruppe einfügt, sodass für eine kurze Zeit „kreuzige bar abbas“ („Kreuzige den Sohn des Vaters“) zu hören ist, die „bar abbas“-Gruppe greift zunehmend das Wort „kreu-zige“ auf, bis es im ganzen Chor zu hören ist, die Episode schließt mit einem laut gerufenen „Kreuz“ ab. Das Todesurteil gegen Jesus wird somit deutlich in Musik gesetzt.
Auch gibt es Referenz an die Musik Johann Sebastian Bachs, Harmonik und Choralstil werden ebenso aufgegriffen (3, 7, 25b), wie musikrhetorische Symbole (Kreuzfigur in 17), Variation eines Bach-Zitates zur Darstellung von Krippe und Kreuz (22b). Darüber hinaus Anklänge an Stile der Alten Musik, z. B. Pilatus-Worte als Zwei-Stimmen-Kanon (14)
Wolfgang Rihm verbindet die Passion Jesu mit dem Holocaust. Paul Celans Gedicht Tenebrae bildet den Schluss der Passion (27) und bildet mit den Einsetzungsworten des Abendmahls (1) eine thematische Klammer (Gegenüberstellung des Blutes Jesu mit dem Blut der KZ-Opfer, unterstrichen durch Celans Sprachbilder, die sich deutlich auf die Passion beziehen; so bereits der Titel Tenebrae (Finsternis) sowie „Blut“ und „Leib“. Die Vertonung des Celan-Gedichtes ist sehr schlicht gehalten, vor allem Solisten und Chor dominieren, das Orchester ist sehr zurückgenommen. Chor und Soli antworten einander (antiphonaler Stil), harmonisch wirkt gerade dieser Abschnitt sehr traditionell (Dur-Moll-Tonalität).


Diskografie
Wolfgang Rihm: Deus Passus: Passions-Stücke nach Lukas, Mitschnitt der UA vom 29.8.2000. Juliane Banse, Iris Vermillion, Cornelia Kallisch, Christoph Pregardien, Andreas Schmidt. Gächinger Kantorei, Bach-Collegium Stuttgart, Helmuth Rilling. Hänssler-Verlag 2000/2001
Lutz Riehl